frei

Minimalismus hat nicht nur damit zu tun wenig zu haben, sondern auch damit achtsam mit seinem Leben umzugehen. Was man unter Achtsamkeit versteht habe ich lange nicht verstanden. Bis ich gemerkt habe was passiert wenn man unachtsam mit seinem Leben umgeht.

 

Immer wieder ist es mir in meinem Leben passiert, dass ich mich Dingen die ich gerne tue so sehr widme das Sie zu einer Verpflichtung werden. Verpflichtungen sind das Ende aller Freiheit. Darüber wie sehr uns Kredite, Häuser und jeglicher Besitz zum Sklaven eben jener Güter machen haben schon genügend Autoren (Henry D. Thoreau) und Minimalismus-Blogs(The Minimalists) geschrieben. Mich versklavte jedoch immer wieder die Leidenschaft zu Aktivitäten. Ich hatte als Kind faktisch keine Hobbies außer Fernsehen. Wo andere Kinder Kletterkurse machten, in den Leichtathletikverein oder zum Schwimmkurs gingen, saß ich zuhause und glotzte in den Flimmerkasten. 

 

Als ich älter wurde bemerkte ich wie viel Zeit ich in meinem Leben damit verbrannt habe. Später war es das wichtigste das Studium schnell abzuschließen um möglichst schnell, möglichst viel Geld zu verdienen. Meine Hobbies bestanden daraus Serien zu bingewatchen, auch wenn ich mir sicher bin, dass man das damals noch nicht so nannte. Ich erinnere mich an ganze Wochen mit täglich einer halben Staffel House MD. Als ich anfing zu arbeiten hatte ich das Gefühl jetzt alle diese Erwachsenendinge zu tun, wie zu heiraten, Kinder zu kriegen und ein Haus zu bauen. Nichts davon war an sich schlecht. Alles zusammen verdarb es. Zu schnell, zu viel, alles auf einmal. Ich brach unter der Belastung die ich durch meine Erwartungen an mich selbst geschaffen habe zusammen. 

 

Alles hat einen Preis, manche Dinge kann man mit Geld kaufen, manche erfordern Zeit und manche viel Disziplin. Ich bin einen Marathon in 3:30 gelaufen, das hat mich sehr glücklich gemacht, aber ich bezahlte damit mit viel Zeit der Vorbereitung, die ich nicht mit meinen Kindern oder meiner Partnerin verbringen konnte. Zuletzt wollte ich unbedingt diese eine Eignung als Bergretter auf den ersten Versuch schaffen, so habe ich viele Klettertage unter Leistungsdruck und Erwartungen verbracht und dabei gerade keinen Spaß gehabt und kaum Augen für die Natur. Oft kam ich am letzten Haken der Route an, klippte ein und rief direkt das Seilkommando zum abseilen. Viel zu oft genoss ich nicht den Triumph die Route durchstiegen zu haben. Fast nie verharrte ich kurz und betrachtete die Natur in Ihrer Schönheit aus einer Perspektive, die nicht viele kennen. Mein Antrieb war gleich wieder in die nächste Route zu kommen um am Ende des Tages möglichst viel auf der Tick List zu haben. Ich wollte mit Menschen mithalten, die seit Jahren klettern und die besser, sicherer und routinierter sind. Alle Klettertage waren zu kurz, ich sass jeden Abend über den Routen und studierte was ich geschafft habe. Nie erreichte ich meine Erwartungen und die Ziele die ich mir gesetzt habe.

 

Nebenbei bin ich Ultras gelaufen, habe einen olympischen Triathlon spontan vorbereitet und gefinisht und einen Schrebergarten gehegt und gepflegt, zwischendurch 40 bis 50 Stunden die Woche gearbeitet und regelmäßig Podcasts aufgenommen und veröffentlicht. Rechnet man mal, dass ich im Schnitt 45 Stunden arbeite, 10 Stunden zur Arbeit pendle, 10 Stunden in der Woche Ausdauersport mache und zusätzlich 10 Stunden auf die Eignungsprüfung das Klettern trainierte, dann wenigstens 7 Stunden pro Nacht schlafen muss, bleiben gerade 44 Stunden in der Woche um irgendetwas anderes zu machen als die Dinge, die ich als meine Pflicht angesehen habe. 18 von 24 Stunden pro Tag habe ich also komplett verplant. Dann hatte ich noch nicht geduscht, gegessen, Hausarbeit erledigt oder war Lebensmittel einkaufen. Jeden Tag, fast ein Jahr lang. Darunter litt nicht nur ich, sondern auch meine Freundschaften, meine Beziehung, meine Kinder, meine Familie. Mein gesamtes Umfeld musste mein durchgetaktetes Leben ertragen. Nicht nur ich bezahlte für meinen Anspruch, auch andere unfreiwillig. Heute ist mir klar: Es ist zu viel! 

 

Dabei habe ich die besten Tage verbracht, wo ich meine Disziplin durchbrochen habe. Ein wunderschöner Abend am Bodensee am Anfang des Frühlings mit Grillen und einem Treibholzfeuer. Lange Gespräche mit einem Freund bei Bier und Brotzeit. Ein Nachmittag mit meinem Sohn auf dem Volksfest an dem wir Autoscooter fuhren. Das sind die Dinge die mir Mehrwert bescherten. Dass ich fast alle sportlichen Ziele erreicht habe, die ich mir vorgenommen habe macht mich zwar stolz, aber jedes einzelne Ziel könnte mich separat glücklich machen. Doch ich wollte immer mehr, mehr und mehr. Und nun bin ich an der Talsohle angekommen. Alle Akkus sind leer und ich kann nur aus dem Fehler lernen. Ich wollte zu viel und alles auf einmal und habe dafür die Freude an der einzelnen Sache verloren. Viel in etwas zu investieren kann sich großartig anfühlen, doch wenn man es zur Pflicht macht es alles kaputt. So oft hat man gehört, dass Menschen klagen, dass das Hobby zum Beruf wurde und dann kein Hobby mehr war. Das größte Gut ist unsere Freiheit mit Menschen die wir lieben gemeinsam Dinge zu tun die uns Freude machen. Ich war auf einem Egotrip. Ich habe nur für mich das alles auf einmal haben wollen und auf Kosten von allen die zu meiner Welt gehören investiert. Teilweise ohne zu fragen. Mein nächster Ansatz, nachdem die Dinge die zu viel waren aus meinem Leben verschwunden sind, ist es nun meine Ziele und Ansprüche zu überdenken. Ich muss keine hohen Schwierigkeitsgrad klettern, wenn ich klettere, weil ich dabei Spaß mit Freunden haben möchte. Ich muss keinen Marathon mehr laufen, nur damit es auf der Liste steht. Es hat nichts mit Motivation zu tun, ich versuche krampfhaft Dinge nachzuholen, die ich meine verpasst zu haben. Dabei liegt die Freiheit direkt in Griffweite. 

 

Mich bewusst von allen Zielen zu verabschieden und das Leben, den Moment und das was ich habe zu genießen war die beste Entscheidung die ich seit langem getroffen habe. Es fühlt sich an als hätte ich eine lange, missbräuchliche Beziehung endlich beendet und ich kann wieder frei denken, handeln und sein.

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Thomas / Lennetaler (Donnerstag, 28 September 2017 14:48)

    Sehr schöner Text! Schön, dass Du es geschafft hast, Luft zu holen und ich hoffe das Jahr hat nicht zu viel von Dir verbrannt. Man kann und darf durchaus viel Zeit und Herzblut in eine Sache investieren, aber nicht in ein Dutzend gleichzeitig. Man muss lernen, Sachen auch schleifen oder fahren zu lassen. Das Leben ist im Fluß und Prioritäten sind nicht in Stein gemeisselt. Genauso wie es mal legitim sich mal 12 Wochen in eine Marathonvorbereitung zu knien, müssen darauf auch Phasen mit anderem Fokus folgen.